
Ich war heute in einem wirklich toll eingerichteten Gym. Ich kenne es schon lange, war früher regelmässig dort, bis wir den Wohnort gewechselt haben. Es war auch heute sehr gut besucht und der Gerätepark entspricht dem Wunschtraum eines jeden Fitness- und Kraftsportlers. Es hat an Kunden alles, was der Sport zu bieten hat. Ich hatte ein echt gutes Rückentraining.
Auf dem Heimweg kamen mir, wahrscheinlich im post adrenergen Rausch des trainingsbedingten Wohlgefühls Gedanken hoch, die ich hier teilen möchte. Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die Euch hier erzählen möchte.
Es ist die Geschichte von Jennifer, einer Patientin von mir (Name geändert).
Doch bevor ich erzähle, ist es mir wahnsinnig wichtig, hier zu sagen, dass ich diese Zeilen weder bewertend und schon gar nicht verurteilend schreibe. Ich kenne das Gefühl, wenn die Schultern nicht breit genug sein können und bei 108kg auf der Waage das Ziel 115kg ist. Ich kenne das Gefühl, 650 kg Beinpresse als 8er Satz zu drücken und Du danach zu erbrechen. Ich kenne die Befriedigung, nach einem harten Training nach Hause zu fahren und mit der Welt eins zu sein. Ich kenne aber auch die Schattenseiten. Ich sehe sie häufig. Die Blutbilder von Wettkampf Athletinnen und Athleten sind sich oft so gleich. Die Geschichten auch. Und meine Empathie und mein Wunsch zu helfen, bringen mich dazu, das hier zu schreiben. Ich habe äusserste Hochachtung vor den Leistungen aller Athletinnen und Athletinnen!
Und das bringt mich zu Jenny.
Jennifer, war zum Zeitpunkt der Untersuchung 38 Jahre alt und hatte sehr viel erreicht in Ihrer Wettkampfkarriere. Sie hatte nationale und internationale Wettkämpfe gewonnen, war IFBB Profi und konnte Fotos von sich präsentieren, die wohl Athene und Zeus neidisch gemacht hätten.
Gebräunt, definiert mit goldenen vollen Locken, im glitzernden Wettkampfbikini stand sie da, die glänzende Goldmedaille um den Hals, ein weiss strahlendes Lachen im Gesicht, die Augen blau leuchtend. Ein Bild von einer Frau.
Jennifer hatte eine lange Geschichte. Sie erzählte mir diese in einer Intensität, die mich, noch heute erschaudern lässt.
Mit 13 Jahren - sie weiss es noch, als wäre es gestern gewesen - war sie an einem frostigen Wintertag wegen Magersucht mit ihren Eltern auf dem Weg ins Spital. Ihr Gewicht war federleicht. Sie war eingehüllt in Shirts, Pullover und einer dicken Jacke, die klirrende Kälte wie Messerstiche für den Körper, der jegliche Isolation verloren hatte.
Jede Kalorie, die sie zu sich nehmen musste eine Folter. Ihre Energie genügte kaum, um zur Toilette zu gehen. Und dabei war sie doch noch immer zu dick.
Der Weg zurück war extrem und lange. Intensive medizinische und andere Therapien, viele Stunden im Gespräch und immer wieder der quälende Blick in den Spiegel und das Gefühl der Ohnmacht und der verlorenen Kontrolle waren etwas, das kein junger Mensch ertragen sollte. Wieso verstanden sie die anderen nicht? Sie war ja gar nicht krank.
Doch Jennifer schaffte es. Mit 16 Jahren war sie normalgewichtig, konnte die Schule fertig machen und eine Lehre beginnen. Die harten Jahre hatte sie stark gemacht. So dachte sie.
Mit 17 Jahren besuchte sie das erste Mal ein Fitnesscenter. Sie begann zu trainieren, sich bewusst zu ernähren. Sie zeigte Einsatz, Durchhaltewillen und Biss. Sie konnte das. Hatte das ja im Spital bewiesen, als sie den harten Weg zurück ins Leben durchgemacht hat. Dieser Biss zeigte Erfolge. Der Blick in den Spiegel wurde wiederum zentral.
Mit 19 Jahren stand sie das erste Mal als Bikinathetin auf der Bühne. Das Gefühl dort oben war überirdisch. Sie vergisst nie den Einmarsch der Athleten, römischen Gladiatoren gleich, am Publikum vorbei zur Bühne, untermalt vom Applaus der Menge. Für einen kurzen Moment schien die Welt vollkommen. Vergessen waren die Fressanfälle in der Vorbereitung und das Erbrechen danach. Vergessen, die grossen Schüsseln Salat ohne Sauce und die ungesalzenen Pangasiusfilets, die trockenen Reiswaffeln und die tausend und ein Whey Proteinshakes. Vorbei die miserable Schlafqualität, weil die Gelenke weh taten und der Hunger plagte.
Ihr wisst, was kommt. Die Sucht war zurück. Und der Spiegel und die Waage ständige Begleiter in einem Leben, das nur auf diese Dimension ausgerichtet war. Der absolute Fokus brachte die Erfolge. Der Profi Titel kam. Wie auch der Griff zur Pharmakologie. Primobolan, Oral-Turinabol, Ephedrin, T3, Clenbuterol, Somatropin. Um nur einige zu nennen. Das kostete Unsummen. Die Stimme wurde tiefer und rauher, die Haare auf dem Kopf dünn und im Gesicht mehr. Doch die Erfolge waren da. Nur das zählte. Der nächste Wettkampf, der nächste Aufbau, die nächste Diät, die Fotoshootings, die Blicke im Studio und sich einfach spüren. Vor allem das: sich selber spüren.
Der berühmte Krug ging zum Brunnen…bis er brach.
Ein grippaler Infekt zerstörte das fragile Gleichgewicht, das schon lange nur noch Illusion war. Es kam zum Notstopp. Die Bremse zog der Körper selber. Der Magen Darmtrakt quittierte jegliches bisschen zuviel an Fett oder die Fressanfälle mit Durchfall oder Erbrechen. Stuhlgang war eine tägliche Qual. Die Toilette war zum Sinnbild für das gefühlte Versagen geworden.
Ständig frierend oder dann viel zu warm, ständig krank. Das Absetzen der Steroide liess die hart gewonnene Muskulatur schrumpfen, die Haut war alt geworden. Das unterbewusste Nervensystem war blank gelegt, die Isolationen dieser Nervendrähte weg und die Stromschläge der Überlastung durch Stress ein einziges Feuerwerk der Traurigkeit, Ohnmacht und Depression. An Schlaf war oft kaum zu denken.
Der Weg zurück ans Licht, wie damals als Teenager lange. Schmerzhaft. Teuer.
Und doch, dieser tiefe Wille, diese gewaltige Ressource des Durchhaltens, gestählt durch die Jahre, führten Jenny Schritt um Schritt zurück zu sich selbst. Und zu einer gewaltigen Erkenntnis, die wir zwar alle kennen, doch nicht jeder von uns in dieser Tiefe erfährt. Wissen verblasst immer im Angesicht des Erfahrens. Jennifer suchte im Aussen, was nur im Innen zu finden ist. Die Liebe zu sich selbst wird nie vom Spiegel genährt. Der Wert unseres Selbst offenbart sich in den grössten Lebenslektionen, die wir alle lernen müssen. Es ist die Dankbarkeit, die uns die Tore öffnet, das Loslassen, dass uns das Geben ermöglicht und die Demut um das Wissen der eigenen Vergänglichkeit, die uns zur Ruhe führen. Liebe ist im Geben. Und darum ging es bei Jenny immer: sich selber zu lieben. So einfach, aber alles andere als leicht.
Jennifer geht es heute gut. Sie hat Balance. Sie isst, wenn sie Hunger hat. Sie treibt Sport, wenn sie mag. Sie geht mit ihrem Hund spazieren und auswärts essen mit ihrem Freund. Sie schläft gut. Sie hat Energie. Die Toilettenschüssel symbolisiert nicht mehr Angst und Qual.
Ist es jeden Tag so? Nein. Es gibt immer noch Tage, an denen sie wirklich leidet. Doch diese Tage gehen vorbei. Sie hat gelernt, dass die guten Tage wieder kommen. Und diese geniesst sie aus tiefster Überzeugung.
Im Gym sehe ich so viele Menschen an den unterschiedlichsten Stationen der Reise.
Es gibt die muskelbepackten 100kg Bodybuilder mit Körperfett Werten unter 10%. Das ganze Jahr durch.
Es gibt die Fitness Mädels in den toll zusammengestellten Better Bodies Outfits, gebräunt, gebleicht und mit Pobacken, die ein Dressurpferd neidisch werden lassen. Instagram stets dabei.
Es gibt die Teenager, die von Muskeln träumen und die älteren Herren, die einfach gesund sein möchten und um die Macht der Bewegung wissen.
Es gibt die, die hingehen um möglichst viele andere vom Training abzuhalten, in dem sie sie in Gespräche verwickeln und die, die hingehen, damit sie hingegangen sind.
Und alles zwischen drin und noch mehr.
Das Gym offenbart die Vielfalt unserer Gesellschaft. Es scheint oft, als sei es ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, wo Sehen und Gesehen wichtiger ist als der Sport. Wo vermeintliche Vorbilder posieren und herumstolzieren und jeden Pfau in seiner Balz alt aussehen lassen. Die Suche ist offen gesagt, stets dieselbe. Es ist oft auch die von Jennifer. Es ist die Suche nach Emotion, nach Gefühl, nach Wert. Manche suchen mehr, andere weniger. Manche haben gefunden, andere finden nie. "All you need is love". So sangen einst die Beatles.
Und dabei ist meine persönliche Lektion als 50-jähriger Mann ganz einfach: Bewerte nicht. Sei dankbar und demütig. Vergleiche Dich nicht. Tu, was Du tust aus dem Grund des persönlichen Wachstums. Geh Deinen Weg. Punkt. Und ganz am Ende des Wegs lässt Du das los, was Du nur geliehen bekommen hast: Deinen Körper, Deinen Tempel der Seele. Was dann geschieht, wissen wir alle nicht.
Ist diese Lektion neu? Nein, im Gegenteil. Aber es war mir heute wichtig, das zu teilen.
Noch was: das Bild ist meine Frau 2016 bei einem Wettkampf der SNBF, der Schweizerischen Natural Bodybuilding und Fitness Federation. Meine Frau damals auch in der Vorbereitung begleiten zu dürfen, hat mir gewaltig viel Einsicht in diesen Lebensstil gegeben und mir erst ermöglicht, Jenny zu verstehen.
Und deshalb grüsse ich Euch alle, in tiefster Hochachtung vor der übermenschlichen Leistung aller Athletinnen und Athleten!
Herzlichst, Euer
Dr. René Lüchinger